von David Gibson
Stellen Sie sich vor, die Verfassung der Vereinigten Staaten wäre in Microsoft Word geschrieben worden – mit aktivierter Funktion „Änderungen nachverfolgen“ und Kommentaren – und jede überarbeitete Version wäre in SharePoint oder Evernote gespeichert worden. Stellen Sie sich vor, die Gründerväter hätten E-Mails geschrieben und wir könnten die Diskussionen zu sämtlichen Änderungen und Überarbeitungen lesen.
Was dachten sie wohl? Wären diese digitalen Aufzeichnungen verfügbar, würden wir es wissen.
Tatsächlich sind viele Briefe der Gründerväter noch erhalten und sogar online abrufbar. Die Briefe aus der Gründungszeit der USA sind erst der Beginn eines langen Decrescendos der Geschichte, das bis zur Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer führt. Diese Dokumente sind wahre Schätze, die uns dabei helfen, unsere Geschichte zu entdecken und herauszufinden, was unsere Vorfahren dachten.
Die Geschichte hat gezeigt, dass diese Schätze auch Verantwortung bedeuten: Die (möglicherweise) gestohlenen Liebesbriefe von Henry VIII an Anne Boleyn könnten das Werk eines frühen Bradley Manning sein, der sich ähnlich wie WikiLeaks einen Namen machte.
Dass wir unsere Dateien und E-Mails heute nur ungern löschen, ist verständlich, denn sie verbinden uns mit unserer Vergangenheit. Digitale Inhalte geben vielleicht nicht genau unsere Gedanken wieder, enthalten jedoch wichtige Hinweise darauf.
Wie oft haben Sie schon vergessen, was vor einem Monat oder selbst vor einer Woche geschah, und in Ihrem Outlook-Kalender nachgeschaut, wo Sie an einem bestimmten Tag waren? Wie oft haben Sie einen alten E-Mail-Thread gelesen, um sich wieder in Erinnerung zu rufen, wie Sie zu einer bestimmten Entscheidung gelangten? Wie oft sehen Sie sich alte Fotos an und sind erstaunt (oder schockiert) darüber, wer Sie damals waren?
Wenn ein Archäologe der Zukunft etwas über Sie herausfinden wollte, dann würde er Ihre E-Mails durchsuchen. Er würde Ihre Facebook-Pinnwand ansehen. Und Ihren Blog. Er würde Ihre Word-Dokumente und Präsentationen lesen, Ihre Fotos durchwühlen, Ihre Podcasts anhören und Ihre Videos anschauen. Welche Tweets haben Sie geschrieben, als Sie gerade in der Gegend waren?
Die Kommunikationsfrequenz sowie die Anzahl und Möglichkeiten der verwendeten Medien steigen – und das Bild Ihrer digitalen Persönlichkeit wird zunehmend schärfer. Selbst sehr zurückgezogene Personen und Experten auf dem Gebiet der Verschleierungstaktiken hinterlassen eine Silhouette in Form von Einsern und Nullen, eine digitale Geschichte aus Gedankenfetzen.
Natürlich sollten wir nicht vergessen, dass zwischen den Episteln wichtiger Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte und unseren E-Mails, Texten und Instagrammen doch noch ein Unterschied besteht.
Doch wer kann schon sagen, was wichtig ist und was nicht? Wie viele Leute sind wohl der Meinung, dass sich in einigen Jahren jemand für ihre digitalen Gespenster interessieren könnte, und bewahren deshalb jedes Byte auf? Wenn wir den Berichten über die zunehmende Verbreitung narzisstischer Persönlichkeitsstörungen Glauben schenken dürfen, dann könnten das sehr viele sein.
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